Die Wege des Wildes
Wer glaubt, dass Wild vom Jäger nur in Jägerhaushalten landet, der irrt. Verschlungen und zahlreich sind die Wege, die Schweizer Wildbret nimmt, um vom Revier auf den Teller zu kommen. Eine Spurensuche.

Man kann die Uhr danach stellen. Pünktlich Mitte August räumen die Grossverteiler ihre Sortimente um. Wo noch Gazpacho und frische Salate die Auslagen füllten, türmen sich, hübsch herbstlich verpackt, Hirschpfeffer, Wildschweingeschnetzeltes und Preiselbeerbirnen in orange-braunen Vakuumbeuteln. Es ist Wildzeit. Und die geht hierzulande meist von Ende August bis Ende Oktober. Dann spätestens wird die Wildauslage von faden und dünnen Chinoise-Rädli übernommen. Der Advent fährt ein.
Vorzu?ge des Schweizer Wildes
Wenn man sich in diesen 60 Tagen die Mühe macht, einen der Beutel aus dem Supermarkt näher zu betrachten, fällt auf, dass egal, ob Salami, Trockenfleisch, Fleischzuschnitt oder Halbfertiggericht: Das Wildfleisch kommt nicht aus der Schweiz. EU, Tschechien, Ungarn, Österreich oder das ferne Neuseeland werden als Herkunft deklariert. Und wer die Verarbeiter kennt, weiss, dass dort zwar sauber, aber auch industriell gearbeitet wird.
Das stört manchen Verbraucher. Der nämlich ist, Bauernlobby sei Dank, auch der Überzeugung, dass freilebendes Schweizer Wild Vorzüge gegenüber fremdländischer Ware haben müsse. Wir Jäger täten gut daran, ihn in diesem Glauben zu lassen, zahlt man doch hierzulande fast drei Mal mehr für ein Reh in der Decke als in unseren Nachbarländern. Ein nicht wegzudiskutierender Vorteil ist sicher die Regionalität heimischen Wildes, die der Verbraucher schätzt.
Wer Gasthäuser der mittleren bis gehobenen Klasse betritt, wird dort zur Herbstzeit zahlreiche Wildwochen bestaunen und verkosten können. Je besser die Beiz, desto örtlicher ist das Wild. So zumindest machen es hiesige Gastronomen dem Kunden gerne weis. Und den freuts, denn wie könnte man sich planetenbewusster ernähren als durch Wild, welches ein Reviermitpächter um die Ecke gestreckt und schnurstracks zum freundlichen und kompetenten Wirt gebracht hat? Doch ist das wirklich so? Wo landet Schweizer Wild aus den Revieren? Wo wird es verarbeitet? Und wie kommt es zum Kunden? So divers unser Land ist, so divers sind die Wege des Wildes.
Bekannte, Gastronomie und Eigenbedarf
Revierpächter Nicola Branger aus Solothurn beschreibt die Lage in seinem Revier, die spiegelbildlich für einen Grossteil der Jägerschaft in Revierkantonen sein dürfte. So würde mehr als die Hälfte des Wildes an Freunde, Bekannte und Verwandte verkauft. Hierbei verlasse sich der Jäger meist nicht auf seine eigenen Zerlege- und Ausdressierkünste, sondern bediene sich Störmetzgern oder lasse lohnzerlegen. Auch wechsle viel Wild in der eigenen Reviergesellschaft den Besitzer. Der Gastjäger und die Treiberin werden gerne berücksichtigt, wenn sie Bedarf haben. An zweiter Stelle in der Verkaufsstatistik folge dann, wie vermutet, die örtliche Gastronomie, wobei, wie Branger betont, die Küche eines weithin gerühmten Gasthauses derart viel Bedarf habe, dass man mit dem Nachliefern kaum nachkomme. An dritter Stelle stehe der Eigenbedarf der eigentlichen Jägerschaft.
Dieses Phänomen ist in allen Revierkantonen zu beobachten. Etwas ändern daran wollte Michael Werner aus dem schönen Blauburgunderort Hallau im malerischen Klettgau (SH). In den sanften, toskanisch anmutenden Hügeln dieser nördlich des Rheins liegenden Landschaft tummeln sich Reh-, Schwarz- und auch Sikawild. Werner ist ein Macher und leidenschaftlicher Jäger. Als die Gemeinde Hallau das in die Jahre gekommene Schlachtlokal verkaufen wollte, welches von der örtlichen Jägerschaft rege genutzt wurde, fackelte er nicht lange und gründete mit Jägern aus den Reviergesellschaften Hallau und Neunkirch die Genossenschaft «Chläggi» (JAGD&NATUR berichtete in der Ausgabe 11/2022). Im neu errichteten, vom Veterinäramt als «game handling establishment» bewilligten Betrieb können einerseits Jäger in der Decke anliefern und an die Genossenschaft verkaufen. Andererseits können sie auch den Zerlegeraum nebenan selbst nutzen oder von einem Störmetzger nutzen lassen. Einen Teil des Fleisches, das in der Genossenschaft anfällt, verkauft Werner gleich selbst über einen Imbiss und Laden nebenan. Er ist also nicht nur Genosse, sondern auch der grösste Abnehmer seiner Idee, die erst im Herbst 2022 startete und besser laufe als geplant, wie er sagt.
Raffiniert ist zudem, dass die beiden Gemeinden Hallau und Neunkirch die Genossenschaftsräume als Kadaverstelle nützen und der Genossenschaft dafür einen schönen Batzen an die Fixkosten zahlen. Werner, 53 Jahre, der sein Baugeschäft verkaufte und nun eine Metzgerlehre macht, lacht, wenn er an die Anfänge denkt: «Es ist nicht jeder gleich überzeugt gewesen. Aber mittlerweile liefern sogar Jäger aus dem nahen Deutschland ihr Wild bei uns an.» Und nicht nur die: Auch die umliegenden Bauern könnten die Räume für Notschlachtungen nutzen und zwei örtliche Damwildzuchten sind ebenfalls schon Kunde dieser Graswurzel-Idee. Verkauft wird, wie gesagt, an Werner, der als Metzgerlehrling im besten Alter sicher noch viel von sich reden machen wird, wenn er an Endkunden und Gastronomen verkauft.
Erstklassiges Lebensmittel
Dass Genossenschaftsmetzgereien für Jäger funktionieren, erstaunt nicht. Jäger sind Primärerzeuger eines erstklassigen Lebensmittels und können ihren Vertrieb wie Milchbauern auch über Genossenschaften effizient bündeln. Sie stehen dann zur Genossenschaft in einer Dreierbeziehung: Als Anteilseigner, Lieferanten der Rohware und (sofern gewünscht) Abnehmer des dressierten Fleisches.
Im Kanton Glarus funktioniert das bereits länger und im grossen Stil. Die Puurämetzg Sernftal ist ein eindrücklicher Beweis dafür, was passiert, wenn Bauern und Jäger sich zusammentun, um aus einer einfachen Notschlachtstelle einen modernen Betrieb zu entwickeln. Verantwortlich für die Metzgerei ist Hubert Wiederkehr, das Marketing leitet Jost Zentner. Er sagt: «Mittlerweile findet auch das Wild aus Revierjagden und dem Ausland den Weg nach Engi.» Ein Wildraum, der Jägern durch Codeeingabe jederzeit zugänglich ist, dient Jägern und Gastronomen als Anlaufstelle. Insbesondere Gastronomen, die ihr Wild direkt vom Jäger beziehen, lassen sich das Wild gerne zerlegen und ausdressieren.
Zentner sagt aber auch, dass zur Hochjagd im Patentkanton Glarus die betrieblichen Gegebenheiten fast an ihre Grenzen stossen. Umso dankbarer ist man für die Anlieferungen aus dem Um- und Ausland, sorgt dies doch für eine fast ganzjährige Auslastung der Wildverarbeitung. Die Puurämetzg arbeitet zudem daran, sich neue Märkte zu erschliessen, und möchte in der Stadt Zürich Fuss fassen. So kann es also gut sein, dass ein in Wädenswil gestreckter Maibock in Engi verarbeitet und wieder nach Zürich geliefert wird. Für ihre Expansionspläne sucht die Genossenschaft übrigens neue Anteilseigner.
Zusammengefasst kommt Schweizer Wild also vor allem direkt über den Jäger, den lokalen Metzger oder Störmetzger zum Kunden. Je näher dieser bei der Jagd ist, desto eher wird er einen Störmetzger oder Revierpächter kennen. Je urbaner er ist, desto eher wird er sich über einen Metzger vor Ort um heimisches Wild bemühen.
Kurzzeitige Engpässe
Stichwort Metzgerei. Im wildreichen Kanton Graubünden (und Glarus) gibt es 48 zugelassene Wildbearbeitungsbetriebe. Das sind diejenigen Metzgereien, die Wild auch ausserhalb eng definierter Grenzen verkaufen dürfen, Störmetzger nicht eingerechnet. Es zeigt sich, dass der kumulierte Anfall von Wild durch die kurzen Jagdzeiten Verarbeitungsengpässe schafft, die nur grosse Metzgereien bewältigen können. Wenn der ganze Kanton mit Spezialkaliber auf den Beinen ist, füllen sich die Wildräume schnell. Metzger Hatecke mit seinem Schlachtlokal in Scuol verarbeitet beispielsweise über 200 Hirsche im Jahr. Wie David Hatecke sagt, eine für hiesige Verhältnisse stolze Summe.
Wäre diese Menge für einen Supermarkt nicht attraktiv? Rechnen wir nach: 200 Hirsche ergeben im besten Falle je 40 kg Fleischausbeute. Ein Supermarkt mit nur 400 Filialen käme pro Filiale auf gerade einmal 20 kg Hirschfleisch für die ganze Wildsaison. Dass das zu wenig ist, leuchtet ein. Zumal, wie eingangs erwähnt, das Fleisch im Ankauf nicht nur drei Mal teurer wäre wie ausländisches Wild, welches zu genau gleichen Konditionen gewonnen und verarbeitet wurde wie hierzulande. Auch die hiesige Zerlegung kostet mehr. Mit ein Grund, warum die Genossenschaft Chläggi noch keine ausländischen Kunden für die Zerlegung gewinnen konnte. Kein Wunder also, verlassen sich Fleischeinkäufer von Supermärkten auf Importeure, die Zugang zu grossen Zerlegern im nahen oder fernen Ausland haben. Das Wild mag genau gleich schmecken, von hier ist es freilich nicht.
Zwei-Klassen-System
Und so bleibt am Schweizer Wildmarkt das bestehende Zwei-Klassen-System fest betoniert: Das des regionalen Wildes, welches in kleinen Metzgereien, beim Jäger selbst oder in der guten Beiz zu geniessen ist. Und das des Supermarktwildes, welches praktisch immer importiert wird. Mögen auch die Verarbeitungskapazitäten hierzulande professioneller und etwas zentraler werden. Ein Hallauer oder Bündner Hirsch wird so schnell nicht im Coop oder in der Migros landen.
Das muss für das Ansehen der Jagd kein Beinbruch sein, im Gegenteil. Der Verbrauch von Wildfleisch übersteigt hierzulande das Angebot um das Dreifache. Importe sind nötig, damit das kostbare Gut den Weg zum wertschätzenden Verbraucher findet, der beim Genuss uns Jägern innerlich ein stilles Kränzlein windet. Die Preisdifferenzierung zwischen heimischem und ausländischem Wild ist damit auch Ausdruck eines freien Marktes, der mitnichten auf Subventionen für Regionalität zu zahlen bereit sind.
Man darf sagen: Über diesen Preisaufschlag zollen Sie dem Wirken Schweizer Jäger Respekt. Ein Leistungsausweis, auf den man stolz sein darf.
Text: David Plaz
Bild: Rafal Lapinski
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