Das Berghirschl aus den Moschen

Hautnahes Brunftgeschehen, wachsames Pirschen, das Er­leben einer ursprünglichen Jagd – Leif-Erik Jonas nimmt uns mit auf eine mit Spannung geladene Jagd, die sich tief in sein Gedächt­nis einbrennen wird. Es zeigt sich wieder: Auf der Jagd geht es um weit mehr als das Erlegen eines kapitalen Hirsches!

Veröffentlicht am 23.09.2024

Die Hirschbrunft neigt sich allmählich ihrem Ende entgegen. Unzählige Pirschgänge liegen bereits hinter mir, doch bisher hat es mir nicht gelingen wollen, den mir freigegebenen Junghirsch auf seine Decke zu legen. Daran jedoch trage ich eine gewisse Mitschuld, denn ich habe mich auf einen besonders urwüchsigen Revierteil konzentriert – die Moschen. 

Das Jagen dort ist kein leichtes, dafür aber ein besonders reizvolles. Am Ende eines schmalen Steiges tut sich hier unter einer stufigen Felswand eine krautige Freifläche auf. Von ihrem jenseitigen Rand zieht ein schrotschussbreiter Lahner talwärts und teilt den beerkrautbodigen Bergwald auf einer Länge von einigen hundert Metern. Rechts des Lahners befinden sich zudem einige kleine Kahlschläge, die sich jedoch nur schwer bejagen lassen. Am oberen Ende des Lahners – unmittelbar unterhalb des schroffen Gewänds – lässt es sich hingegen vorzüglich hocken und schauen. Allein passender Anblick ist mir hier in dieser Brunft bisher verwehrt geblieben.

Zeitig am Nachmittag pirsche ich wieder einmal in die Moschen hinein. Schon bald liegt frische Rotwildlosung vor mir, die kaum mehr als einige Stunden alt sein kann. Angespannt und aufmerksam setze ich meinen Weg fort. Als mich nur mehr die Entfernung eines Schrotschusses von der Freifläche trennt, liegt wieder feucht glänzende Losung am Steig. Ich spüre förmlich, hautnah am Wild zu sein. Mit aller Bedachtsamkeit setze ich Pirschschritt vor Pirschschritt und doch knackt unter den harten Bergschuhsohlen hin und wieder ein Ästchen oder trockene Gräser streifen raschelnd die Hosenbeine.

Ein Pirschgang im goldenen Herbst.

Als ich die Freifläche beinahe erreicht habe, ist ein, zwei Schrotschussweiten tiefer in einem Stangenholz ein leises Knacken zu vernehmen. Ist dort Wild ab­gesprungen? Oder woher dieses schwache, aber doch deutliche Geräusch? Ich verharre wie angewurzelt. Nur Augenblicke später burrt im dichten Fichten­genadel ein Waldhuhn – es wird wohl eine Birkhenne gewesen sein – davon. Schon will sich mein Jägerblut beruhigen, als mir ein erschreckend naher Hirschschrei durch Mark und Bein fährt. Vermutlich hat der Hirsch also mein Pirschen vernommen, aber als die Geräusche eines anwechselnden Rivalen fehlinterpretiert. Deshalb ist er aus seinem Lager hochgeworden – daher das schwache Knacken – und hat zu melden begonnen.

Wieder dröhnt ein gewaltiger Röhrer durch den urwüchsigen Bergwald, dann noch einer und nach einer kurzen Pause ein weiterer. Die Stimme ist zwar kräftig, klingt aber nicht sonderlich alt und so könnte der Hirsch ein passender für mich sein. Dort im Stangenholz ist ihm jedoch nicht beizukommen. Und eigentlich erwarte ich nicht, den Hirsch am Lahner abpassen zu können, denn üblicherweise zieht das Wild hier in den Abendstunden talauswärts. Im obersten der kleinen Kahlschläge könnte mir der Hirsch deshalb in Anblick kommen.

Unbemerkt den oberen Rand des Kleinschlages zu erreichen, ist keine leichte Sache, doch zumindest probieren will ich es. Also mache ich kehrt und pirsche entlang des Steiges ein kurzes Stück zurück. In all der Anspannung habe ich nicht wahrgenommen, wie sich der Himmel in der Zwischenzeit verfinstert hat, und nun rieseln rundliche Graupelkörner hernieder. Doch der Schauer ist nur von kurzer Dauer und schon bald dringen wieder wärmende Sonnenstrahlen durchs Gewölk. Ich verlasse den Steig und pirsche über den trockengrasigen und zweigübersäten Bergwaldboden mit äusserster Vorsicht dem Schlag näher. Kurz bevor ich eine Geländekante erreiche, die freien Blick auf den Schlag gewährt, schweift mein Blick mehr zufällig hinüber auf den Lahner, den ich zwischen den Wipfeln des Stangenholzes stellenweise einsehen kann. Und dort sticht mir am jenseitigen Waldrand – vielleicht hundertfünfzig Meter entfernt und etwa ebenso weit unterhalb meines Ansitzplatzes der letzten Tage – ein eigenartiges Etwas ins Auge. Ich hebe das Fernglas – und wahrhaftig! Am Rande des Lahners lagert ein Stück Rotwild, ein schon völlig grauer Schmalspiesser.

Die Hirschbrunft neigt sich langsam dem Ende zu.

Jetzt muss ich besonders aufpassen, denn zum Spiesser hin habe ich keinerlei Deckung. Die vielleicht zehn Schritte bis hinüber auf die Kante erscheinen mir zu heikel. Deshalb steige ich auf einen reichlich kniehohen Baumstock hinauf und erlange so Einblick in den Schlag. Er ist wildleer. Augenblicke später tönt von links unterhalb des Schlages ein mächtiger Hirschschrei. Steht der Hirsch noch im Stangenholz oder bereits am Lahner? Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, schiebt sich zwei Schrotschussweiten unterhalb des Spiessers ein massiger, roter Wildkörper in eine schmale Bestandslücke. Ein rascher Blick durchs Glas zeigt einen weder jungen noch alten Hirsch. Links meine ich, eine leidlich lange, aber dünne Achterstange zu erkennen – im nächsten Augen­blick wird der Hirsch bereits wieder vom Fichtengenadel verdeckt. Wenn es in diesen Sekundenbruchteilen nicht gar getäuscht hat, ist der Hirsch also zwar ein laut Abschussrichtlinien passender, doch zu alt, um meiner Freigabe zu entsprechen. Nur wenige Atemzüge später folgt bedächtigen Schrittes ein zweiter, schon völlig grauer Hirsch. Dieser ist ein junger, brandiger Kronenhirsch – wohl ein Zehner vom dritten oder vierten Kopf. Der hätte das richtige Alter, entspricht jedoch freilich nicht den Abschussricht­linien.

Da sich das Geschehen zum Lahner hin verlagert hat, muss ich nun trachten, unbemerkt meinen Ansitzplatz unter dem Felsgewänd zu erreichen. So kehre ich zum Steig zurück und pirsche Schritt für Schritt der Freifläche entgegen und auf sie hinaus. Nur elendslangsam komme ich vorwärts, denn die trockenen Gräser und Stauden erfordern, jeden Pirschschritt bedachtsam zu setzen. Immer weiter kann ich den Lahner hinabblicken, doch vom Wild ist kein Haar zu erschauen. Auch der Schmalspiesser ist verschwunden. Nach mehr als einer halben Stunde habe ich meinen Ansitzplatz endlich erreicht.

Hier sitze ich noch im gleissenden Licht der tief stehenden Herbstsonne, während ein Teil der Moschen bereits im Waldschatten liegt. Um im Schatten besser schauen zu können, nehme ich das Glas zu Hilfe und fahre über den Lahner. Da habe ich zwischen einigen mehrfach hirschhohen Jungfichten am linken Rand des Lahners plötzlich den grauen Rücken eines Stückes Rotwild in den Linsen – nicht weit von jener Stelle entfernt, wo zuvor der Schmalspiesser gelagert hat. Der übrige Körper des spitz stehenden und äsenden Stückes wird von der quer über den Lahner verlaufenden Geländestufe überriegelt und so kann ich meine Vermutung, dass es sich um den Spiesser handelt, vorerst nicht bestätigen. Erst als das Stück einmal aufwirft, vermag ich es anzusprechen – es ist ein Schmaltier. Nun zieht es langsam nach rechts und wird von der Geländekante vollständig verdeckt. Kurz darauf steht bei den Jungfichten plötzlich wieder ein Stück Rotwild – das ist nun der Schmalspiesser. Während er in aller Ruhe vor sich hin äst, hat das Schmaltier die grasige Geländestufe erklommen und wechselt nach rechts davon.

Noch sitze ich keine zehn Minuten unter der Felswand, als beim Schmalspiesser ein weiteres Stück aus der Überriegelung auftaucht und nach links zieht. Rasch hebe ich das Glas an die Augen, erkenne einen geringen Hirsch, lasse das Glas ebenso rasch wieder sinken und richte das bereitliegende Spektiv ein. Ein zweijähriger Sechser ist er – kurz und dünn die Stangen, links ist das Mittelende kaum halbfingerlang, rechts fehlt es gänzlich. Eilig setzt er seinen Weg fort, verschwindet hinter den Jungfichten, wird Augen­blicke später wieder frei und verhofft im Schatten des Hochwaldes.

Bei einem unspektakulären Ansitz hätte ich ein so schwaches Hirschl vermutlich ziehen lassen und auf einen besseren gehofft. Was mich hier und heute dennoch zur Bockbüchsflinte greifen lässt, ist die Spannung der letzten Stunde, ist das hautnahe Brunft­geschehen, ist das wachsame Pirschen, ist das Erleben einer ursprünglichen Jagd, die sich gewiss tief in mein Gedächtnis einbrennen wird und mir weit mehr bedeutet als ein guter Hirsch, der unter gewöhnlichen Umständen zur Strecke kommen würde. Während ich hastig am neben mir liegenden Rucksack in Anschlag gehe, zieht der Hirsch weiter dem Waldrand entgegen. Ich lasse einen Schrecklaut zu ihm hinunter, dann einen zweiten und der Hirsch verhofft brettlbreit. Zwar beträgt die Entfernung kaum zweihundert Meter, doch die Auflage ist nicht die beste und so tanzt das Fadenkreuz auf einer reichlich handgrossen Fläche umher. Dennoch erhöht mein rechter Zeigefinger rasch den Druck auf den Abzug. Dann bricht der Schuss. Während der harte Knall im weiten Tal verhallt, flüchtet der Hirsch nach links und einen Herzschlag später ist er im hochstämmigen Wald verschwunden. Ein Zeichnen habe ich nicht erkannt, doch meines guten Abkommens bin ich mir sicher. Ein Weilchen warte ich noch zu, dann raffe ich mein Zeug zusammen und steige zum Anschuss hinunter. Ich bin überzeugt, ihn mir anhand der Jungfichten genau eingeprägt zu haben. Dennoch suche ich vergeblich herum, finde kein Tröpfchen Schweiss, kein Schnitthaar – einfach gar nichts! Da schaue ich mehr zufällig den Lahner hinab – und etwa zwanzig Schritt entfernt leuchtet es auf einem übermoosten Felsblock schweissrot.

Eine erfolgreiche und spannende Pirsch auf das Berghirschl aus den Moschen.

Die hangparallel in den Hochwald hineinführende Fährte, in der grosse Mengen Lungenschweiss liegen, zu halten, ist dann nicht schwierig. Nachdem ich ihr schon bald hundert Schritt gefolgt bin, macht mein Jägerherz einen Freudensprung, denn im knorrigen Geäst eines niedergebrochenen Baumriesen liegt der Hirsch am Rande einer schmalen Blösse.

Nach der Roten Arbeit verliere ich keine Zeit, denn mir steht noch eine beschwerliche Bergung bevor – immerhin verläuft der nächste Forstweg erst drunten im reichlich halbkilometerentfernten Talgrund. So ziehe ich den Hirsch in der Falllinie durch raumen Hochwald und dichtes Stangenholz talwärts und komme dem Tosen des weiss schäumenden Gebirgsbaches, der dieses Tal durchfliesst, rasch näher. Unmittelbar oberhalb des Bachs erreiche ich schliesslich den Forstweg. Hier setze ich mich im eindunkelnden Bergwald neben meiner Beute nieder, warte auf die Jagdkollegen, die mich abholen wollen, und bin dankbar, in dieser ungestörten Zeit innerlich zur Ruhe kommen und das Erlebte in mich aufzunehmen zu können.  

Text: Leif-Erik Jonas
Bilder: Leif-Erik Jonas

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