«Hege» – ein Begriff aus der Mottenkiste?

Ein uralter Begriff und seine Perspektiven im 21. Jahrhundert: Betrachtungen eines erfahrenen Weidmanns.

Veröffentlicht am 29.05.2023

Jeder Jungjäger und jede angehende Weidfrau stösst spätestens in der Jungjägerausbildung auf diesen klassischen Begriff. Der Jäger als Heger und Schützer des Wildes, quasi als «Hirte» über Hirsch, Sau und Reh. Und welcher Hubertusjünger kennt nicht die Strophen des klassischen Gedichts «Das ist des Jägers Ehrenschild, dass er hegt und schützt das Wild, weidmännisch jagt wie sich‘s gehört, den Schöpfer im Geschöpfe ehrt» des ehemaligen preussischen Oberförsters von Riesenthal. Aber in unserer modernen Zeit werden viele aus Jahrhunderten überlieferte Traditionen hinterfragt. Zu Recht?

Es gibt in der grünen Zunft «Modernisten», die den Begriff der Hege aus den Jagdgesetzen streichen und pauschal durch «Wildmanagement» ersetzen wollen. Sie haben die hohen Schalenwildbestände mit den daraus resultierenden Wildschäden im Fokus und bewerten den Hegebegriff, mit dem viele von uns gross geworden sind, als veraltet. Sie argumentieren, dass gerade bei steigenden Schwarzwildvorkommen und der Afrikanischen Schweinepest neue Konzepte gefragt seien. Das ist sicherlich nicht falsch, aber oft wird ein Aspekt aus den Augen verloren: Denn zeitgleich zu stetig steigenden Schalenwildbeständen benötigen die Besätze von Niederwild die helfende Hand des Jägers und damit den gesetzlichen Hegeauftrag.

Chasperlitheater um nichts?
Die Hege mit der Büchse scheint in der jagdlichen Praxis manchmal fragwürdig zu sein, zumindest in ihrer strengen Auslegung wie sie in den 50er- und 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit ihrer Fokussierung auf starke Gehörne und Geweihe war. Ich habe z.B. noch nie in verstanden, warum ein einseitiger Kronenhirsch schlechter sein soll als sein Artgenosse mit doppelter Krone. Die Einteilung in A- und B-Hirsche, wie sie beispielsweise Deutschland kennt, macht wildbiologisch keinen Sinn und das Weidwerk für gegnerische Kräfte angreifbarer. Entscheiden zu wollen, wie eine Wildart auszusehen hat, ist ethisch fragwürdig. Und auch der «unerwünschte» Knopfbock ist immer noch nicht ausgestorben.

Hauptgründe, warum ein Hirschgeweih aussieht, wie es aussieht, sind das Alter (ca. 30 Prozent Bedeutung) und die Genetik (ca. 20 Prozent). Die Hege mit der Büchse aber versucht, Anomalien und damit genetische Vielfalt auszumerzen, ohne eventuelle Konsequenzen zu kennen. Das ist gegenüber dem Rotwild verantwortungslos. Ausserdem stellt eine abnorme Trophäe wie z.B. ein Perückenrehbock für die meisten von uns eine erstrebenswerte Beute dar. Warum versucht man, etwas mit der Kugel wegzuzüchten, was man eigentlich erbeuten will?
Die Schweiz hat genug Schalenwild. Ob das an der geweihorientierten Jagd der vergangenen Jahrzehnte, der hohen Anpassungsfähigkeit des Wildes oder einfach an günstigen Bedingungen liegt, sei dahingestellt, ist hier auch nicht das Thema. Hirsch, Sau und Reh aufzuhegen, brauchen wir jedenfalls vielerorts nicht mehr. Wir sind Jäger, keine Züchter – und Wild muss auch wild bleiben dürfen.

Dennoch ist die Hege – auch beim Schalenwild – kein Relikt für die Mülltonne. Die Inhalte haben sich geändert. Denn der Heger von heute ist der Moderator zwischen Wild, Ökologie und Ökonomie. Er ist der Lobbyist, der die Interessen des Schalenwildes und die Interessen der Landwirtschaft und des Naturschutzes in Einklang bringen soll. Wie gut diese Lobbyarbeit vielerorts funktioniert, dafür gibt es auf lokaler Ebene zahlreiche Beispiele. Es kommt der Natur und den Wildtieren zugute, wenn Jägerinnen und Jäger mit anderen Interessengruppen gleicher oder ähnlicher Zielrichtung in den Bereichen Tier-, Natur- und Umweltschutz eng zusammenarbeiten.

In der heutigen Moderne macht es keinen Sinn, Wild und dessen Lebensraum an die Jagd anpassen zu wollen – die Jagd muss sich stattdessen nach dem Wohlbefinden des Wildes und dessen Lebensraum ausrichten. Einen grünen Paradigmenwechsel benötigt die Jagd dazu nicht. Schliesslich sind es wir Jägerinnen und Jäger, denen das Wohl und der Erhalt der heimischen Tierwelt am Herzen liegt. Unsere emotionale Bindung zu Wild und Wald sollten wir nutzen, um uns wieder als Ansprechpartner Nummer eins in Wildfragen zu positionieren und die «Schmetterlingsschützer» unserer grossen Schutzorganisationen zurück zu ihren Insekten zu schicken – dort leisten sie nämlich gute Arbeit. Das schaffen wir aber nur, wenn unser Hegeziel nicht eine bestimmte Geweihform oder eine Stückzahl X je hundert Hektar, sondern das Wohlergehen des Schalenwildes und dessen Lebensraum ist. Dazu gehört ein artgerechter Altersklassenaufbau, genügend Äsung, Ruhe und die Ermöglichung einer natürlichen Tagesrhythmik. Ersteres erledigen wir dank Kompetenz und Gewehr. Die anderen Punkte werden aber von anderen Landnutzern mit beeinflusst. Das heisst, wir sind auch als Kommunikations-Schnittstelle gefragt. Das leise unsichtbare Süppchenkochen im Wald muss für die Jägerschaft zu Ende sein – unsere Mitbürger sind nicht doof, und auch wir selbst haben die Weisheit nicht immer mit Löffeln gefressen. Auf unsere Mitmenschen zuzugehen, sie aufzuklären, zu diskutieren, Kompromisse einzugehen, Wildruhezonen durchzusetzen, aber auch Eigentum vor unnötigen Wildschäden zu bewahren, sind in meinen Augen wichtige Aspekte eines modernen Hegebegriffs. Denn Pflanzenfresser, die nicht durch zu harten Jagd- und Freiheitsdruck hin- und hergescheucht werden und angemessene Lebens-Ruhe-Räume vorfinden, fressen auch weniger Bäumchen.

Wer nützt, der schützt
Der rapide Rückgang der Offenlandarten Hase, Wachtel und Rebhuhn ist zu den grossen Wildstrecken der 60er-Jahre im 20. Jahrhundert zu heute deutlich feststellbar. Wo gibt es sie noch, die grossen Treibjagden? Manche Naturschutzorganisationen würden gerne ganz klar die Jagd auf den Hasen ganz verbieten. Diese Organisationen fordere ich auf, sich die drei Säulen des heutzutage leider oft missbrauchten Begriffs der Nachhaltigkeit noch einmal in Erinnerung zu rufen: ökologisch, ökonomisch und sozial.

Der Begriff der Ökonomie enthält zumeist auch einen gewissen Nutzungsaspekt. Radikaler Tierschutz muss deshalb nicht immer öko, nachhaltig und schon gar nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Gibt man Menschen die Möglichkeit, etwas zu nutzen, werden nachhaltig denkende Individuen ihren Bestand/Besatz nicht übernutzen. Und genau das sagt der Hegebegriff. Die Schweiz wäre dumm, wenn es den Tod einiger weniger Hasen nicht gegen die freiwillige und ehrenamtliche Arbeit von uns Jägerinnen und Jägern in Bereichen des Habitat-, Biotop- und Naturschutzes tauschen würde.

Naturschutzmonopol
Der Superfaktor «Intensivierung der Landwirtschaft» steht über allem, und eine Veränderung ist nicht absehbar. Die Schere zwischen Profiteuren und Leidtragenden öffnet sich immer weiter. Das trifft auf jagdbare wie nicht-jagdbare Wildtiere zu. Profitierte etwa der Hase einst von der Landwirtschaft und wurde zum Kulturfolger, flüchtet er nun vor jener. Deshalb reicht eine reine Raubtierbejagung schon lange nicht mehr aus, bekämpft sie doch nur die Symptome, nicht aber die Ursache. Lebensraumgestaltung hingegen packt das Problem an der Wurzel, ist aber auch kein Allheilmittel. Deshalb sind wir Jäger gemeinsam mit dem nichtjagenden Naturschutz gefragt, für gerechte Lebensräume zu sorgen. Die Schaffung einer möglichst vielfältigen Habitatstruktur muss den Hegebegriff mehr denn je prägen. Dazu benötigt es Leitarten (umbrella species) nach deren Bedürfnisse Biotope gestaltet werden. Sind die für einen bestimmten Lebensraumtyp charakteristische Wildarten (z.B. Hase) ausgewählt und die Biotope entsprechend hergestellt, geht es auch mit anderen Arten wieder aufwärts und im Optimalfall im Wald auch mit Wildschäden deutlich runter. Wir Jäger haben eine Monopolstellung: Biotope anlegen können Naturschützer ohne Jagdausbildung auch, Füchsen und Krähen nachstellen aber nicht. Kein Wunder also, dass Jäger beispielsweise um Unterstützung beim Schutz seltener Wiesenbrüter-Kolonien gebeten werden. Persönlich, der ich im Schwarzwald wohne, weiss ich, dass das Überleben des vom Aussterben bedrohten Auerwildes auch davon abhängt, dass die Raubzeugbejagung intensiv durchgeführt wird. Das sehen mit Sicherheit auch einige Vogelfreunde so. Denn Jäger und andere Naturschützer wollen doch eigentlich genau das Gleiche: Mehr Diversität in die Landschaft bringen und Wildtieren unter die Arme greifen.

Wir Jäger nennen es Hege, die anderen Naturschutz. Eine Demokratie sollte mehrere Begrifflichkeiten nebeneinander ver- und ertragen können.

Text: Andreas Hausser, Foto: Damian Zenzünen
(erschienen in JAGD&NATUR 7/2021)

 

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